Freitag, 8. August 2014

Von Reisfeldern und anderen unnormalen Dingen

...Fortsetzung "Froschklatschen"



Wir schreiben bei Direktor M. in Biologie einen Test in der Art den man heute modern Multiple - Joice nennt, wir sagen Zahlenlotto dazu, so mit ankreuzen der richtigen Lösung und so. Als einziger in der Klasse habe ich eine zwei, alle anderen haben eine eins. Ich habe mich für eine Million Jahre entschieden, als es um die Frage ging, wann die Menschwerdung begann. Ich sage, dass eine Million zu wenig ist, es müssten drei bis vier Millionen Jahre sein. Mein Vater liest die Zeitschrift Wissenschaft und Fortschritt und ich auch. Die anderen in der Klasse lachen darüber und verstehen den Sinn nicht, warum ich mich gerne mit Direktor M. streiten will. Ich sage sooo, mit drei o und alle lachen.

Mit sechzehn Jahren darf ich dann in den Ferien das erste mal allein an die Ostsee. Ich entschließe mich für das Trampen, es ist billiger als Zugfahren, zum zweiten war garantiert, das man was erleben würde. Freundlicherweise bringt mein Vater mich noch bis an die Autobahnauffahrt S. von der ich es nach nur zwei Stunden schon bis zum nördlichen Berliner Ring schaffe. Von dort aus geht es jedoch ewig nicht weiter, so dass ich schließlich schon einen Tag Pause einlegen will und anfange mir eine Unterkunft in Straßennähe zu suchen, da die Sonne sich schon stark dem Horizont näherte. Als ich wieder einmal reflexartig meinen Daumen in Richtung Norden schwenke, hält ein weißer Trabant-Kombi mit quietschender Bremse an, eine rundliche Frau auf dem Beifahrersitz kurbelt die Scheibe herunter und fragt durch das Geknatter, wohin ich will. Ich sage artig: "An die Ostsee. Usedom". "Nee soweit fahrn wa nich, aba bis Mirow kannste mitkomm, wir ham unsan Jarten da!" Na wenigstens etwas. Ich steige begeistert ein und lande direkt im frisch geschnittenen Gras, das den kompletten hinteren Teil des Autos einschließlich der Rücksitze bedeckt. "Wir ham Viecher im jarten.", meint der Fahrer, der bis dahin noch keinen Ton gesagt hat. "Ham Se ne Pistole dabei?", ist sein nächster Satz. Ich gucke verdutzt. "Nee, im Ernst, sind so viele Terroristen unterwegs." sagt er darauf. Jetzt weiß ich, was er meint. Durch das RIAS wurde vor ein paar Tagen gemeldet, dass es einem oder mehreren von der Westberliner Polizei gesuchten Terroristen gelungen sein soll, sich nach dem Osten abzusetzen. Ob das nur ein Gerücht war oder stimmt, hat mich gar nicht interessiert, deswegen war die Vorstellung, dass einer mit Rucksack ein Terrorist sein konnte gar nicht so abwegig. Ich bin jedenfalls keiner, das beschwor ich. Blöderweise war der Rucksack daran schuld, dass ich kurz hinter Mirow dann so kaputt vom Laufen bin, dass ich mir eine Übernachtung suche. Erst mal was essen. Ich laufe wieder in den Ort zurück, beim Vorbeifahren hatte ich so etwas wie eine Wohngebietsgaststätte entdeckt, wer sich auskennt weiß schon, eine sogenannte - BG 1000 -(für Laien, Abkürzung: Betriebsgaststätte für 1000 Essen je Stunde). Das Ding ist gerammelt voll, obwohl es schon heftig auf zwanzig Uhr zugeht. An dem Tisch wo ich mich hinsetze sind neben vielen älteren auch einige jüngere Leute, die mich wie einen Exoten betrachten. Ich habe gerade eine Reihe meiner Lieblingswitze und die Geschichte mit dem Gras im Trabi und der Pistole erzählt, als ein junger Mann, ich schätze achtzehn Jahre alt, aufsteht und mir anbietet, seine Mutter zu fragen, ob ich bei ihnen übernachten darf. Nach zwanzig Minuten kommt er wieder. Mit der Erlaubnis seiner Mutter. Einer freundlichen, zierlichen und geschiedenen Frau, ich glaube kaum doppelt so alt wie ihr Sohn. Ich komme mir richtig bemuttelt und betuttelt vor, wie man so sagt. Eigentlich bin ich ja aufgebrochen um Abenteuer zu erleben. Na gut diese Nacht noch. Früh am Morgen weckt uns die Mutter, wir tauschen noch schnell die Anschriften, man kann ja nie wissen wozu. Schon gegen zehn Uhr bin ich dann in Prenzlau und um eins in Zinnowitz, da wo ich hinwill. Ich hatte vorher schon mal vorgefühlt, ob dort in der Jugendherberge Platz ist. War alles klar. Also stehe ich pünktlich um halb zwei vor dem Anmeldezimmer. Keiner kommt. Halb drei. Ein junger, misstraurig schauender Mann erscheint. Fragende Blicke. Ich sage artig wer ich bin und das ich schon angemeldet bin. Er geht in das Zimmer und kommt mit einem Buch heraus. "Du kommst morgen an.", sagt er und lächelt. Oh, Scheiße, ich hatte vergessen, dass ich drei Tage für das Trampen eingeplant habe, einschließlich zweier Übernachtungen unterwegs. Was nun. "Der Zeltplatz im Hof ist voll, tut mir leid." sagt der junge Mann noch. "Versuche es doch mal auf dem Campingplatz nebenan. Komm morgen wieder her." Ich trotte erst in Richtung Koserow. Voll der nächste Platz, steht groß dran. Zurück in Richtung Trassenheide, immer am Strand lang. Bernstein aufheben. Weiterlaufen. Bernstein aufheben. Weiterlaufen. Der Wellengang ist ziemlich heftig, der Wind zerrt an mir. Ich bin einfach nur müde. Zeltplatz überfüllt. Anmeldung geschlossen. Ich drehe mich verzweifelt um in Richtung Norden und suche mir für die Nacht zwei Strandkörbe. Es gelingt mir, diese so zu rücken, dass ich einigermaßen vor dem zunehmenden Wind geschützt bin. Neben mir sammeln sich noch weitere gestrandete Jugendliche und tun es mir nach. Wir quatschen eine Weile am Lagerfeuer, bis wir zu müde sind. Gegen zehn oder elf abends taucht ein Kübelwagen der Grenzer auf und leuchtet uns aus. "Bitte den PA vorweisen!" Alt genug sind wir. Da wir keine Paddelboote dabei haben, lassen sie uns in Ruhe weiter schlafen. Der Wind und die Wellen sind laut. Ich bin zu müde um das noch mitzukriegen. Am Morgen werde ich wach, weil sich meine Strandkörbe bedrohlich schräg zu neigen beginnen. Als ich wie wild aufspringe, lande ich mitten in einer fast bis an die Dünen reichenden Welle. Meine Klamotten sind völlig durchnässt. Jetzt ist es einfach nur noch laut und hässlich das Meer. Es brüllt. Ich schaffe es bis auf den Dünenweg, die anderen haben sich irgendwann früher schon verdrückt. Noch ein paar Stunden bis sieben Uhr, dann gehe ich unter die Dusche. Ich bin der erste am Morgen vor der noch verschlossenen Tür der Jugendherberge. Die Duschen sind eiskalt. Schnell noch zur Telefonzelle. Mutter Bescheid sagen, das ich noch lebe. "Ihr hattet Sturm", sagt sie, "Hast du davon was mitgekriegt?".

Ihr fragt euch bestimmt, was ich ausgerechnet in Zinnowitz will. Es hat was mit meiner Mutter und mit den Spuren zu tun, die bestimmte Ereignisse bei einem hinterlassen. Zum Beispiel diese zwei hässlichen steinernen Löwen an dem einen Hotel in der Dünenstraße, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Gemeinsam mit meinen Eltern und einer jüngeren Schwester verbrachten wir dort einen zweiwöchigen FDGB-Urlaub, bei dem mein Vater unbedingt ein schönes Erinnerungsfoto mit eben diesen Löwen und uns zwei Kindern haben wollte. "Die sind leeeeebendig!" , habe ich brüllend, tretend und schreiend gerufen, bis es meiner Mutter zu bunt wurde, und sie mit ihrer schönen schwarzen Handtasche meinen Allerwertesten bearbeitete. Ich bekam kein Rosineneis. Dafür Heringssalat. Die Tasche wird später Werkzeugkoffer meines Vaters. Immer, wenn er irgendein Werkzeug braucht, sehe ich zu, dass ich gerade mit was Wichtigerem beschäftigt bin. Diese blöde Geschichte wollte ich, weil ich nun groß war, endlich vergessen. Also mache ich mich auf den Weg um zu schauen, ob die Löwen noch da sind. Wenn sie weg sind, waren sie wirklich leeebendig. Sie waren noch da und beide genauso hässlich wie ich sie in Erinnerung hatte. Heringssalat esse ich heute noch gerne. Ich finde einen Feuerstein mit einem Foto drauf. Ja ihr lest richtig. Jeder, dem ich den Stein zeige, sieht den jungen Mann, der mit dem Fernglas in einen Sonnenuntergang am fernen Horizont schaut. Das bin ich. Ich war schon immer überzeugt, dass unsere Vorfahren fisch- und muschelfressende Wasseraffen waren. Einmal träume ich als kleiner Junge, dass ich als kleiner junger Affe mit vielen gleichaltrigen Artgenossen auf einem Baum an einem wilden schwarzen Strand eines fernen Meeres zusehen muß, wie unsere Mütter und Väter es beim Fische fangen nicht mehr schaffen den plötzlich gewaltiger werdenden Wellen auszuweichen und alle elend ertrinken. Das Meer kocht und schäumt. Das Wasser steigt und steigt. Wir kreischen um unser Leben. Als ich aufwache, habe ich gerade ins Bett gepinkelt. Meine jüngeren Schwestern freuen sich um die Wette, meine Mutter ist entsetzt.

Das Wetter bessert sich. Ich beschließe den Dünenweg in Richtung Westen zu wandern. Die Fernsicht ist traumhaft. In der Dämmerung auf dem Rückweg sehe ich eine Menschentraube vor einem kleinen Lokal. Neben dem Jägerzaun steht ein Schild, es kündigt in bunten Buchstaben ein Konzert einer B.W. an. Das ist heute, stelle ich fest. Es gibt keinen Einlass mehr, die Türen stehen offen. Musik dringt nach draußen. Gitarrenklänge und nachdenklich stimmende Texte. Ein wenig wie Joan B. Einige Zuhörer haben versteinerte Gesichter. Andere, meist Pärchen, hocken umschlungen auf dem sandigen Boden der Düne. Als ich nach zwei Wochen Ostsee nach Hause komme, gehe ich zu Ch. von dem ich weiß, dass er sich das Gitarre spielen autodidaktisch beigebracht hat und bitte ihn, mir das Songbuch von B. D. auszuleihen. Ich will jetzt Sänger werden. In diesem Buch sind die Noten und Griffe mit Farben dargestellt. Ich kann keine Noten, in der Zeit wo das in der Schule gelehrt wird, war ich krank oder zur Kur. Die Gitarre von meiner älteren Schwester steht seit Jahren kaum berührt im Arbeitszimmer von Vater. Nach wenigen Tagen gebe ich auf, ich höre die falschen Töne nicht. Wenn ich schon nicht singen kann, will ich wenigstens so aussehen wie B.D. Ich lasse meine Haare wachsen bis die Locken kaum noch zu bändigen sind und gehe zum Augenarzt weil ich mich bei Licht und Schnee plötzlich immer geblendet fühle und meine Augen tränen. Der Arzt verursacht bei der Behandlung im linken Auge ein Gerinnsel. Er verschreibt mir eine runde Nickelbrille und für die Augen brennende Tropfen. Meine Schwester schickt aus G. wo sie inzwischen studiert, eine Karte mit einer düsteren und unverständlichen Gemäldereproduktion, keiner versteht dieses Bild, ich auch nicht.

Zu Hause erzähle ich begeistert von meinem Ostseetrip und der wunderschönen Landschaft mit ihren Endmoränen und den riesigen Findlingen und Hünengräbern. Mein Vater erklärt mir wortreich, das die Eiszeiten in sehr kurzer Zeit begonnen haben müssen, man weiss noch nicht einmal, was sie ausgelöst hat, es gibt nur Vermutungen. Auch bei manchen Faltungen der Erde gibt es Dinge, die sich nicht mit der Alfred-Wegener-Theorie der Kontinentaldrift erklären lassen. Es kann auch anders gewesen sein. Auch warum die Braunkohle und Steinkohle nur an bestimmten Stellen so konzentriert liegen, versucht er mir zu erklären, er ist schließlich Geologe und muss es ja wissen. Damals kannte ich das Wort Tsunami noch nicht, er sagt gewaltige Flutwellen dazu.

...Fortsetzung folgt. 

Und nun zur Quelle meiner Träume. Reisfelder. In der Realität habe ich diese nie gesehen. Als ich vierzehn war, haben meine Schwestern und ich meine Mutter ausgefragt, wo sie genau auf Sachalin geboren ist. Darauf sagte sie zu uns "Na in Südgeorgien". Wir natürlich Vaters Atlas rausgeholt und gesucht. Insel gefunden, dummerweise so winzig im Atlas, dass nicht mal Städte erkennbar sind und ausgerechnet vor der Antarktis. Na egal, abends als Vater wieder zu Hause ist, fragten wir ihn, ob er eine Karte von Südgeorgien hat, wir wollten gerne nachsehen wo Mutti herkommt. Er fängt an zu lachen. Spricht eine Weile in russisch mit meiner Mutter und sagt darauf zu uns: "Sie meint Südsachalin." Falls jemand den Unterschied nicht kennt, hier die Verweise. Übrigens das Geburtsjahr meiner Mutter ist 1937. Falls jemand zur politischen Lage zu dieser Zeit Fragen hat...

Südgeorgien: Südgeorgien - Insel


Was schlussfolgern wir daraus? Richtig. Ich bin mindestens teilweise Japaner. Das erklärt auch die Reisfeld-Träume, bei denen ich mich auf dem Rücken einer mir vollständig unbekannten Frau befinde und ungefähr dieses Bild sehe:




Quelle des Fotos: Reisfeld von

Wer es nicht glaubt, hier noch ein Foto meiner Großmutter - mütterlicherseits - in der Hauptrolle einer Geisha. Den Rest später.


Quelle des Bildausschnitts: Ada Germanowna Gontscharowskaja, Memoiren, erschienen 1998 Verlag "Sejan" Polen

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